Ulrich Schaffer: Mit Dir, ohne dich* –
Vom Leben mit einem demenzkranken Partner
Ein Interview mit Andy Lang
Ich kenne Ulrich Schaffer seit fast 15 Jahren und seine Texte seit 30 Jahren. Drei Konzertlesungen habe ich mit ihm gestalten können und zweimal hatte ich ihn in meiner Konzertscheune zu Gast. Nun bin ich zuhause bei ihm an der Sunshine Coast gegenüber von Vancouver Island in Kanada. Unser Blick geht über die endlose Weite des Pazifiks, den man von überall in seinem Haus aus sieht. Auf einem Baum neben der Terrasse thront ein Adler. In diesem Paradies schreibt Ulrich seine Texte auf der Suche nach Echtheit und dem, was trägt. Hier hat er auch seine Frau Waltraud sechs Jahre in ihrer Demenzerkrankung begleitet und gepflegt. Seine Erfahrungen, Erkenntnisse, Erlebnisse und auch Begrenzungen dabei hat er in seinem aktuellen Buch „Mit Dir, ohne Dich“ in Bild und Text ehrlich und ungeschminkt beschrieben. Das Buch ist eine Woche vor meiner Ankunft Ende Februar bei Patmos erschienen. Ich möchte von ihm wissen, wie es heute eineinhalb Jahre nach Waltrauds Tod für ihn im Rückblick ist und stelle ihm einige sehr persönliche Fragen:
1. Ulrich, du warst fast 60 Jahre mit Waltraud verheiratet. Was würdest du als das ganz Besondere an dieser Ehe bezeichnen?
Zunächst mal waren wir gar nicht so besonders. Was uns allerdings über all die Jahre zusammen gehalten hat und die Grundlage unseres gemeinsamen Lebens darstellte, war eine sehr ähnliche Suche nach den wichtigen Dingen des Lebens, eine Sehnsucht, das Leben besser zu verstehen und bewusster zu leben und voller Hingabe ans Leben zu lieben. Wir waren von unseren Persönlichkeiten sehr unterschiedlich, aber diese Suchbewegung hat uns immer vereint. Ein Beispiel: Unser ganzes Leben lang haben wir unsere Freunde danach ausgesucht, ob sie auch interessiert waren an den transzendenten Dingen, die über unser alltägliches Bewusstsein hinausgehen, ob sie der Bewusstwerdung und den tieferen Aspekten des Lebens Raum gaben. Ich hätte also niemanden anschleppen können, der Waltraud total gelangweilt hätte.
Wenn wir manchmal im Streit lagen, haben wir das immer zurückstellen können zugunsten dieser Suche. Die Menschen, die uns dabei begleitet haben, waren wichtiger als die ein oder andere Differenz, die wir durchaus auch hatten.
2. Als du dich als junger Mann in eine 6 Jahre ältere Frau verliebt hast: Hattest du damals Gedanken daran, dass der Altersunterschied mal ein Problem sein könnte?
Damals schon, obwohl ich ganz schnell gemerkt habe, dass diese Sorge umsonst war. Waltraud hatte schon vor unserer Beziehung gesagt, dass sie sich mit niemandem so gut über wichtige Lebensthemen austauschen und den Dingen auf den Grund gehen kann wie mit mir. So hat sie noch einmal den Mut gefunden, eine Beziehung zu wagen. Das hatte sie nämlich vorher bereits aufgegeben, weil sie niemanden gefunden hatte, der sie in der Tiefe verstand. Mit weniger wäre sie nicht zufrieden gewesen. Auch mir war dieser Austausch das Allerwichtigste und so hatte unser Altersunterschied keine Bedeutung.
3. Die letzten 6 Jahre eurer gemeinsamen Zeit hast du deine Frau in ihrer Demenzerkrankung begleitet. Wenn du jetzt auf diese Zeit zurückblickst: Was war Dir da eine Perle? Und was hat Dich an deine Grenze gebracht?
Das Ganze war ein Geschenk, weil ich mich dadurch besser kennen gelernt habe – die Bewusstwerdung, die ich ja schon weit über 50 Jahre und mit mehr als 200 Publikationen und Tausenden von Texten geübt hatte, ist fast noch mal neu angekurbelt worden, weil es sehr nötig war. Es war eine bittersüße Perle, denn ich bin zeitweilig an meine Grenze gekommen: Manches konnte ich nicht so gut machen, wie ich gehofft hatte. Von außen bin ich bewundert worden, aber ich habe immer wieder erlebt, das mir etwas nicht gelang. So mangelte es mir an Geduld, auch an dem Willen einzulenken, wenn Waltraud in ihrer Demenz manchmal ziemlich rechthaberisch wurde oder Entscheidungen traf, die sie eindeutig gefährdeten. Sie ist einmal innerhalb von drei Tagen zweimal schlimm gestürzt, weil sie nicht auf meine helfende Hand warten wollte und beide Male hatte sie tiefe Schnittverletzungen an der Stirn und musste im Krankenhaus genäht werden. Das hat dann ziemlich schlimm ausgesehen. Ich habe davon ein Bild in mein Buch aufgenommen. Sie hat dann zu diesen Verletzungen gesagt: „Es ist mir lieber, noch frei entscheiden zu können als mich dem ganz hinzugeben, was Du für mich für richtig hältst“ – da musste ich lernen, mein Empfinden, was gut oder schlecht für sie war, loszulassen, so schwer es mir auch fiel. Als sie sich die Hüfte gebrochen hatte, hätte ich das mit mehr Duldsamkeit von ihrer Seite verhindern können, aber ich wollte ihr eine gewisse Freiheit lassen. So fiel sie und von da an ging es noch schneller bergab mit ihrem allgemeinen Zustand. Für mich war das eine harte Schule und eine Grenzerfahrung.
Ich frage mich in einem Text, ob Waltraud ihre Demenz wegen mir bekommen hat – nicht in dem Sinne, dass ich sie ausgelöst hätte, aber damit ich davon lerne. Natürlich kann ich das nicht behaupten, das wäre ja auch zu sehr von mir her gedacht, aber es ist ein Gedanke, der mich bewegt hat und noch bewegt.
Grenzwertig war für mich auch, wie unerträglich es sein kann, jemanden so leiden zu sehen, den man so liebt. Manchmal war es kaum auszuhalten und auch jetzt noch, wenn ich Bilder aus der Zeit ansehe oder gewisse Texte in dem Buch lese, kommen mir die Tränen. Aber gerade in diesem Unerträglichen habe ich sehr viel über mich gelernt.
4. Wie bist du dann damit umgegangen, dass ein geliebter Mensch vor deinen Augen so abbaut und auch ein Stück ein anderer Mensch wird. Wie hast du die Liebe zu deiner Frau bewahrt?
Ich habe da eine große Hilflosigkeit erlebt – durchaus im doppelten Sinn, weil sie auf Waltrauds Seite ebenso da war wie auf meiner, nur eben ganz unterschiedlich: Es war bei mir eine Ohnmacht, die in der Unfähigkeit bestand, zu helfen. Ich musste lernen loszulassen. Dieses Loslassen geschieht über Jahre; besonders hart war es in den Momenten, wenn Waltraud mich nicht mehr erkannte. Zum Glück passierte das immer nur vorübergehend, aber in der Situation selbst wusste ich nie: Bleibt das jetzt so, oder kommt sie wieder zu mir zurück. Das Schwere dabei ist, dass es bei dieser Erkrankung eben immer schlimmer wird, wenn auch sehr langsam. Die Hoffnung auf Heilung ist bei Demenz nicht realistisch, obwohl ich am Anfang auch durchaus auf ein Wunder gehofft habe. Ich weiß noch wie ich gedacht habe: Wenn wir unser Leben so bewusst gelebt haben, dann dürfte das so eigentlich nicht passieren oder die Demenz müsste einen anderen Charakter haben – und vielleicht war es ja auch so. Ich war unendlich dankbar, dass wir den Kontakt zueinander nie ganz verloren haben. Zugleich habe ich mich fast ein bisschen geschämt für meine Sehnsucht nach einem Wunder, wo ich doch selbst – etwas zugespitzt – der Überzeugung bin: „Wunder sind für Anfänger“.
5. Welche Haltung oder welcher Wert hat dir geholfen, die Krankheit gemeinsam mit deiner Frau anzunehmen und das neue Leben miteinander mit seinen Herausforderungen zu gestalten?
Zunächst einmal war das ganz schlicht Waltrauds Alter: Sie war 79 bei der Diagnose und sie starb mit 85. Ich finde, nach einem reichen Leben mit 85 zu sterben ist nicht tragisch. Waltraud selbst sagte ab und zu, „Es ist genug jetzt!“ Ich sagte mir dann: “Wer bin ich denn, sie hier halten zu wollen?”
Weiter hat mir ein tiefer Glaube an die zyklische Grundstruktur des Lebens geholfen: Festhalten, Loslassen, Festhalten, Loslassen. Ich hatte mir schon vor ihrer Demenz viele Gedanken über diese klassische Lebensbewegung gemacht und ich habe das bereits als junger Mann in der Natur beobachten können. Ich bin ja im Norden Kanadas aufgewachsen, da haben wir jedes Jahr den Zyklus der Lachse erlebt, die zu Tausenden die Flüsse hochkamen, gelaicht haben und dann starben. Vier Jahre hatten sie frei im Ozean gelebt und nun kamen sie an ihren Geburtsort zurück, gaben Leben weiter und starben direkt danach. So war es eben.
So sehe ich auch mein Leben: Irgendwann ist meine Zeit auch abgelaufen. So war auch Waltrauds Zeit vorbei und es war für uns nicht passend, aufzubegehren. Nicht ein einziges Mal haben wir gesagt: „Warum passiert uns das?“ Wir haben uns Meister Eckharts mystische Erkenntnis zu Herzen genommen: Ohne Warum zu leben und so das Aufbegehren loszulassen. Ich halte als literaturbegeisterter Mensch viel von Dylan Thomas, einem der berühmtesten englischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Sein vielleicht berühmtestes Gedicht heißt „Rage against the dying of the light“ (“Wüte gegen das Sterben des Lichtes”). Das passte für einen todkranken 39 -Jährigen, aber nicht für eine 80-Jährige und ihren Partner. Das Leben ohne Warum und ohne das Aufbegehren gegen die Zumutungen und vordergründigen Ungerechtigkeiten des Lebens war für uns beide ein wichtiger Schritt zu einer tragfähigen Reife.
Uns hat geholfen, dass wir auch nach der Diagnose immer noch viel geredet haben und das noch ziemlich lange recht gut ging. Bei manchen Demenzkranken geht das Verstummen sehr schnell. Ich sage jetzt ganz vorsichtig in dem Bewusstsein, dass man daraus kein Gesetz machen kann und ich sage es ohne jegliche Überheblichkeit: Wir haben eben ein Leben lang geübt, unsere Situation und uns selbst zu hinterfragen und sprachfähig zu werden und zu bleiben. Vielleicht hatte Waltraud da einen guten Ausgangspunkt zu Beginn ihrer Demenz. Oder um es anders zu sagen: ihr Abwärtsweg startete von einem hohen Punkt des Bewusstseins aus und so konnte sie noch recht lange auf einem guten Gesprächsniveau bleiben. Zwei Jahre nach der Diagnose bekamen wir für einige Wochen Besuch von einer lieben Freundin. Sie meinte damals, wenn man Waltraud nicht kennt, würde einem nichts Ungewöhnliches auffallen. Sie erlebte allerdings auch nicht die Tiefpunkte, die es immer wieder gab. Später, als die Demenz fortgeschrittener wurde, verblüffte Waltraud mich manchmal mit Sätzen, die eine ungewöhnliche Weisheit in sich trugen, fast wie Botschaften aus einer anderen Welt. Dieser Wunsch z.B. vermischte die Sprache ihrer kanadischen Umgebung mit der Sprache ihrer Reflexion, ihrer deutschen Muttersprache: „Können wir nicht jeden Tag eine Stunde nehmen für die Continuation (Fortsetzung) meines Seins instead (anstatt) an so viel Äußeres zu denken?“ Ein Wunsch, der auch für jeden Gesunden ein Ziel wäre, täglich an den wesentlichen inneren Themen arbeiten zu können, anstelle sich von der Alltagsagenda ganz vereinnahmen zu lassen. In dem Sinne las ich ihr dann unsere komplette Korrespondenz aus unserer Zeit des Kennenlernens vor.
6. Was kannst du weitergeben als hilfreiche Erfahrung an andere Menschen, die mit einem demenzkranken Partner leben?
Ich denke an eine äußere Übung, die aber eine tiefe Wirkung haben kann: Ich schrieb immer wieder auf, was Waltraud sagte und schrieb dazu meine eigenen schriftlichen Reflexionen – beides las ich ihr dann vor. Damit habe ich ihre Äußerungen wertgeschätzt und regte ihr Formulieren an. Vielleicht blieb sie so länger gesprächsfähig. Dadurch dass Waltraud hörte, wie sie zitiert wurde, fühlte sie sich verstanden und respektiert.
Es war auch noch immer eine ganze Welt in Waltraud, die zwar schwerer zugänglich wurde, die aber gelegentlich aufblitzte und die ich manchmal durch einen Impuls von mir herauslocken konnte. Es hat mir geholfen zu glauben, dass in dem dementen Menschen noch ganz viel Wertvolles steckt, auch wenn es manchmal nicht so wirkt. Ich habe das in einem Gedicht so ausgedrückt:
Die Zellen in deinem Gehirn
Es ist nicht klar,
in welcher Reihenfolge und wo
die Zellen in deinem Gehirn sterben.
Sicher ist nur,
dass du auch trotzdem noch
die Unermessliche bleibst.
(Mit dir, ohne dich, S. 268)
Ich habe es so erlebt. Ich hatte deutlich das Empfinden, dass etwas sehr Kostbares weiter in Waltraud lebte. Was ich auch immer wieder mit Staunen wahrgenommen habe, ist ihre Stellvertretung. Besonders auf einem Foto, das ich von ihr gemacht habe, nur Wochen vor ihrem Tod, drückt ihr Gesicht stellvertretend für uns alle aus, was uns alle heimsucht: unser Ausgeliefertsein dem Leben gegenüber, unser Abnehmen und Vergehen. Das hat mich besonders berührt.
Es gibt einen Buchtitel: „Das Herz wird nicht dement“ – der hat mich dazu angeregt, danach zu suchen, was nicht dement wird – den Menschen zu finden, der neben der Krankheit noch da ist und der Aspekte des Unermesslichen in sich trägt. Diese Aspekte entziehen sich unserem Zugang durch die Sprache, aber es gibt eine Wirklichkeit, in der dieser Mensch lebt. Wenn wir uns dieser größeren Sicht öffnen, können wir manchmal in eine andere Welt eintreten, zu der wir eigentlich als Gesunde keinen Zugang haben. Wenn Waltraud beispielsweise plötzlich überraschend sagt: „Es ist unheimlich schön, wenn man in der Unfreiheit seine Freiheit entdeckt“, dann verstehe ich das so: Es kann gelingen dorthin zu gehen, wo das Leben in seinen tiefsten Tiefen wahr ist und wo es um das ureigene Leben geht, das sich nicht in kognitiven Fähigkeiten erschöpft.”
Aber wo ist das Herz
und wie kann ich mich ihm nähern.
Vielleicht ist es nur,
im eigenen Herzen ganz anwesend zu sein.
So will ich immer wieder da sein – von Herz zu Herz.
Ich überspringe deine Krankheit, deine Verluste
und gelange so zu dir
in deiner ursprünglichen Vollkommenheit,
die immer noch da ist,
nur sichtbar für die, die bereit sind, Wunder zu sehen.
Die Krankheit des anderen verändert also auch mich, wenn ich es so zulasse.
7. Empfindest du die Diagnose und die Krankheit als Verhängnis oder eher als Herausforderung oder als Chance?
Ganz eindeutig ist es eine Chance, zeitweilig empfand ich aber alle drei. Am Ende jedoch kam immer wieder die Chance zum Tragen. Ein Verhängnis ist ja immer eine Sackgasse. Dahinter steht eine Schicksalsgläubigkeit, die niemandem dient, sondern nur Opfer kennt. Die Krankheit nur als Herausforderung zu sehen setzt mich unter Druck, diese Herausforderung auch zu meistern. Die Deutung als Chance jedoch erscheint mir zukunftsweisend, denn dann kann ich diese Chance gestalten, ich kann irgendwie damit umgehen. Und damit steht und fällt, wie wir unser Leben erleben: dass wir gestaltungsfähig bleiben, dass wir so oder so handeln können, dass wir keine passiven Opfer sind, einem blinden Schicksal ausgeliefert. Das Erleben einer Chance befähigt mich, auch auf eine schwierige oder aussichtslose Lebenslage noch aktiv einwirken zu können. Vielleicht werde ich sie nicht verändern, aber ich werde dabei selbst verändert.
8. Du bist vor Kurzem 80 geworden. Im gleichen Alter lebte deine Frau schon ein Jahr mit der Diagnose. Hast du Angst, dass es dich selbst treffen könnte, einen Mann, der sein ganzes Leben lang Dingen auf den Grund ging und dem sein Denken und Worte finden wie eine Landkarte und Orientierung war in einer abenteuerlichen und fremden Welt?
Ja, diese Angst gibt es, denn mein Vater und zwei meiner Onkel sind mit Demenz gestorben und bei der Erkrankung spielt ja auch eine erbliche Komponente eine Rolle. Daher war es eine große Überraschung, dass es Waltraut getroffen hat und nicht mich.
Dement zu werden, wäre schwer für mich; ich habe es mir oft versucht, vorzustellen, aber auch das ist schwer. Bei Waltraud habe ich erlebt, dass sie ihre Krankheit nur punktuell reflektierte und sie nicht als so schwer erlebte. Sie hat öfter gesagt: „Das muss ja für dich schwerer sein als für mich“. Manchmal habe ich es auch so erlebt.
Waltraud war sehr interessiert an dieser anderen Welt, in die sie punktuelle, nicht verfügbare Einblicke hatte; manchmal wollte sie gar nicht von dort zurückkommen. Sie hatte dort bekannte Menschen getroffen und offensichtlich war es schön dort.
Ich denke mir: Wenn es mir passieren sollte, vielleicht kann ich dann die Tragweite dessen, was mir geschieht, gar nicht so wahrnehmen und lerne damit umzugehen. In gewisser Weise kann ich davon lernen, wie sie es gemacht hat, wobei jede Demenz ihren ganz eigenen Verlauf hat.
9. Wenn Menschen ihren Partner verlieren, beginnen sie zu trauern. Bei euch beiden hat die Trauer schon lange vor dem Tod eingesetzt, denn ihr wusstet, was auf euch zukommt. Was hat dir beim Trauern geholfen und wie hast du es gestaltet?
Darauf gibt es zwei einfache Antworten: Es hat mir sehr geholfen, mit engen Freunden darüber zu reden, Fragen zu stellen, eine Außenposition zu hören, eine Perspektive von jemandem zu teilen, der oder die nicht direkt so engagiert war wie ich.
Und dann war da das Schreiben. Ich habe von Anfang aufgezeichnet was ich erlebte und empfand. Ich habe also gestaltet, was geschah. Daraus ist dann später das Buch „Mit Dir, ohne dich“ geworden. Das war ungemein hilfreich für mich. Ich war zeitlebens jemand, der versuchte, durch Schreiben den Dingen auf den Grund zu gehen. Oft habe ich erlebt, wie sich im Prozess dieses Schreibens, des Ringens nach Worten, nach dem passenden Ausdruck, die Tiefe, das Leben zaghaft, manchmal auch gewaltig offenbart. So war mein Nachdenken und Schreiben für mich auch ein Gestalten der Krankheit und unseres Umgangs mit ihr. Ich konnte damit meinem Leben eine Form geben, gerade auch meiner Frustration, meinen Fragen und Zweifeln. Aber auch meinem Glück, meiner Frau beistehen zu können, sie zu begleiten, auch in dieser Zeit so tief zu lieben, wie es mir möglich war. Das war etwas sehr Kostbares.
Dieses Buch war Trauerarbeit für mich, aber wir haben beide die Demenz in einen größeren Rahmen gestellt und verstanden: Wir sind alle zum Tod geweiht. “In ihrem äußeren Zerfall sieht er seinen eigenen Zerfall vorweggenommen. Noch nie hat er so viel an sein eigenes Ende gedacht. Es wird ihm durch sie angetragen. Darum sind all die Überlegungen, die er über sie anstellt auch Überlegungen, die er sich über sich selbst macht. Er sieht es als eine Zeit, sich dem Grundsätzlichen zu stellen.“ (S. 254)
Dieses Integrieren half mir, dem Geschehen nicht mehr nur ausgeliefert zu sein. Ich konnte es bejahen, dass wir endlich sind. Auch das habe ich hautnah von Waltraud gelernt und bin ihr dankbar dafür.
Und trotzdem gilt auch diese bittere Erkenntnis:
Der Tod macht das Geliebte unerreichbar.
Es bleibt dann nur, so tief nach innen zu gehen,
dass man am Ende immer auf die Liebe stößt,
weil sie der Urgrund ist, auf dem alles steht“ (S. 273)
Letztlich habe ich aber nicht vordenken oder vorfühlen können, wie es ist, wenn meine Frau wirklich nicht mehr da ist, obwohl ich es mir so oft vorgestellt habe.
Als ich an ihrem Totenbett stand, sah sie fast so aus wie am Vortag als sie noch lebte. Aber ich wusste: Jetzt bist du weg. Für immer gegangen. Und dennoch war da diese große, zärtliche, tiefe Verbundenheit: „Ich spüre dich. Ich danke dir und lasse den Tränen freien Lauf. Das Geheimnis ist groß.“ (S. 281)
10. Was bedeutet das Sterben für dich?
Es ist ein großes Mysterium. Ich habe keine Ahnung. Wir wissen nichts, aber wir können an ein Leben nach dem Tod glauben. Gleichzeitig habe ich schon seit langem versucht, mich mit dem Tod anzufreunden, weil er geschehen wird. Es macht mir manchmal etwas Angst, dass ich mich weit mehr als mein halbes Leben mit etwas beschäftigt habe (mein Schreiben und mein Fotografieren), das aus einer intensiven Liebesbeziehung zum Leben entstanden ist. Wunderbare Schönheit habe ich gesehen und beschrieben und in Bildern, auch Sprachbildern abbilden dürfen. Ich habe eine nahezu erotische Beziehung zur Sprache und sie hat mich wunderbar beschenkt in diesem Leben. Ich bin für das Leben immer empfindsamer geworden und bis heute liebe ich das Leben intensiv. Ich habe daher manchmal Angst, wegen dieser Liebe vielleicht nicht leicht sterben zu können.
„Auch überlege ich viel, was es heißen mag, sich für das Sterben vorzubereiten. Ich habe noch nicht viele Antworten, weiß aber, dass es ums Loslassen geht. Das übe ich und hoffe, bereit zu sein, wenn es soweit ist.“
Alles steht in der Veränderung, an deren Ende die letzte große Transformation geschieht. Und so glaube ich tief, dass man nach einem erfüllten Leben auch gut sterben kann. Mein Leben war und ist noch ein erfülltes Leben und dafür bin ich zutiefst dankbar.
Gehört und aufgeschrieben von Andy Lang am 8.3. 2023 in Gibsons
*Mit Dir, ohne dich. Unser gemeinsames Leben mit Demenz, Patmos 2023
288 Seiten, Hardcover, durchgehend bebildert €28,-
In jeder Buchhandlung zu bestellen.